Reitz Stories

-38° in der Meteoritenstadt

Minus 40 °C?
Stiefel und Strümpfe aus!

Das Thermostat zeigt -38 °C Außentemperatur. In der eisigen Dunkelheit wartet dampfend ein Lada vor dem Hotel in der Millionenmetropole Tscheljabinsk am Ural, rund 4.000 Kilometer östlich von Höxter. Während sich die Straßen mit morgendlichem Berufsverkehr füllen, steigen die Reitz Monteure Holger Erbgut und Wilfried Wiegers in den Wagen, um sich zu einem der größten Stahlwerke Russlands fahren zu lassen. Ihr Auftrag ist die termingerechte Montage von 15 Groß- und 24 Axialventilatoren mit einer Gesamtantriebsleistung von 10.450 kW, ihr Ziel die Einhaltung des offiziellen Termins der Inbetriebnahme durch Vladimir Putin am 22.12.2012.

Ein Kran dreht durch

Es ist Oktober, die Tage werden spürbar kürzer und auf der riesigen Baustelle des größten Sintermetall-Herstellers der Welt herrscht reger Betrieb. Wiegers und Erbgut sind Monteure, die schon alle Anlagenbaustellen der Welt gesehen haben. Gerade erst angekommen, besteht ihre kniffelige Aufgabe darin, 10 KBE Großventilatoren in einer Reihe hintereinander zu montieren. Wenn du bei der ersten Maschine etwas vergessen hast, kommst du später nicht mehr dran. Das muss man wissen und deshalb ist in jeder Sekunde hundertprozentige Konzentration gefragt. Bisher läuft alles wie am Schnürchen und jetzt soll der nächste tonnenschwere 800 kW-Motor aufgesetzt werden, doch statt langsam und behutsam auf das Ventilatorengehäuse zuzufahren, schießt der Kran plötzlich abrupt und ohne Vorankündigung nach vorne. Erbgut arbeitet mit dem Rücken zum hängenden Motor und wird um ein Haar von dem Koloss erwischt. Der Kran fährt zurück und schießt kurz darauf erneut nach vorne. Das Ungetüm spielt verrückt. Wiegers ruft »Jump!«, worauf die Männer vom Ventilator springen und sich in Sicherheit bringen. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt der Kran endlich von allein zum Stehen.

Wiegers und Erbgut veranlassen eine Montagepause, die sich alles in allem über drei Tage hinzieht, bis die Ursache gefunden und behoben werden kann. Eindeutig ist die marode Elektrik schuld und nicht der bedauernswerte Kranführer, der von seinen Vorgesetzten im ersten Schreckmoment verantwortlich gemacht wird. Nach der Beinahekatastrophe zu Beginn kommen die Deutschen, die hier nur Nemjetskis genannt und von allen Seiten bestaunt werden, deutlich schneller voran als geplant, was zu Irritationen auf Seiten der russischen Führung führt. Auch das wird in einem Gespräch geklärt und die Arbeit daraufhin für mehrere Wochen einvernehmlich unterbrochen.

Minus 40 °C? Stiefel und Strümpfe aus!

Zur Verkabelung und für die ersten Probeläufe kehren Erbgut und Wiegers im Dezember zurück in die Eiskammer am Ural. Jetzt ist es richtig kalt. Morgens um 6.45 Uhr knapp minus vierzig Grad, im Tagesverlauf klettert das Thermometer auf lauschige 20 °C unter null. 12 Stunden am Tag wird im Freien montiert, unterbrochen von kurzen Pausen im beheizten Container. Dann wieder raus in die Eishölle.

Die russischen Kollegen schütteln den Kopf angesichts der deutschen Sicherheitsmontur. Leder und Stahl bedeuten den sicheren Tod, wenigstens aber handfeste Erfrierungen. Also: Stiefel und Socken aus! Wie bitte? Am nächsten Tag bringt ihnen ein älterer russischer Monteur, der von Haus aus eigentlich Lehrer ist, Filzstiefel mit und zeigt ihnen wie man mit einem Dreieckstuch die Füße so einwickelt, dass man längere Zeit im Freien überstehen kann. Wilfried Wiegers ist begeistert und bemerkt eher im Scherz, dass er solche Stiefel gerne mit nach Hause nehmen würde. Eine beiläufige Bemerkung, die die russischen Freunde wie so viele andere Dinge auch nicht vergessen.

Nach der Inbetriebnahme, das Taxi, das die Nemjetski zum Flughafen bringen soll, wartet bereits vor der Tür, stürzt der Technische Leiter in den Container: »Wir haben riesige Probleme. Mit der Maschine läuft was nicht.« Wiegers und Erbgut tauschen einen vielsagenden Blick: »Ach du Scheiße, heißt das, dass wir über Weihnachten hierbleiben müssen?« Doch ein Augenzwinkern des Technischen Leiters löst die Irritation ganz schnell auf: »Ein Joke«. Er zieht zwei Paar Filzstiefel hinter seinem Rücken hervor und überreicht sie den Deutschen mit breitem Grinsen. Auf den Stiefeln steht: »Wir bedanken uns für die Zusammenarbeit. 20.12.2012. Russland, Chemk, Tscheljabinsk.« Es folgt anerkennender Applaus von allen Seiten und ein wehmütiger Abschied von russischen Kollegen, die im Laufe der Wochen nicht zuletzt durch gemeinsame Sonntagsaktivitäten wie Wandern und Eisfischen im Ural zu echten Freunden geworden sind.

Ein 570 kg schweres Bruchstück des Meteoriten war 2013 in einen zugefrorenen See gestürzt und konnte anschließend geborgen werden.

Der Meteorit von Tscheljabinsk

Der Meteor von Tscheljabinsk war ein am 15. Februar 2013 um etwa 9:20 Uhr Ortszeit (4:20 Uhr MEZ) weithin sichtbarer Meteor in der Tscheljabinsker Oblast rund um die Stadt Tscheljabinsk im russischen Ural, nachdem ein Meteoroid bzw. kleiner Asteroid in die Erdatmosphäre eingetreten war. Nach Rekonstruktion der Flugbahn zählte dieser mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Gruppe der erdnahen Asteroiden vom Apollo-Typ. Es handelte sich um den größten bekannten Meteor seit über 100 Jahren. Ein noch größerer Meteor könnte zuletzt beim Tunguska-Ereignis im Jahr 1908 in die Erdatmosphäre eingedrungen sein. Bisher einmalig für einen Meteoritenfall ist auch die hohe Zahl der verletzten Personen von rund 1.500 – die meisten allerdings durch splitterndes Fensterglas. Schätzungsweise 3.700 Gebäude wurden beschädigt. Das Dach einer Fabrik stürzte ein. Nach Angaben der Behörden gab es Schäden in sechs Städten der Region. 1.491 Menschen wurden verletzt und suchten medizinische Hilfe. Die meisten davon erlitten Schnittwunden durch splitterndes Glas sowie Prellungen. 43 Personen mussten stationär ins Krankenhaus. 

33-mal Hiroshima

2 Monate später – Chemk läuft einwandfrei, es ist immer noch lausig kalt am Ural, Wiegers und Erbgut sind längst auf anderen Längen- und Breitengraden unterwegs, als Tscheljabinsk für die Dauer eines verglühenden Kometenschweifs in das Zentrum der Weltaufmerksamkeit rückt. Tatsächlich tritt über der Stadt der größte bekannte Felsbrocken aus dem All in die Erdatmosphäre ein und zerbricht mit einem markerschütternden Knall 15 km über der Stadt. Dabei werden 3.700 Gebäude beschädigt. Fenster splittern und verletzen Hunderte von Menschen. Wie durch ein Wunder nimmt Chemk keinerlei Schaden. Als Wilfried Wiegers und Holger Erbgut von dem Meteoritenabsturz im Fernsehen erfahren, gilt ihr erster Gedanke den Freunden. Wiegers nimmt Kontakt zu Julia, ihrer Dolmetscherin aus Tscheljabinsk auf. Allen geht es gut, die Ventilatoren laufen unbeeindruckt weiter wie immer. Und weder eisige Tage und Nächte noch glühende Kometen werden daran etwas ändern.

Herr Wiegers, vielen Dank für das Gespräch.